Rhetorik: Die Macht der Rede und die Bedeutung der formalen Bildung

Rhetorik: Die Macht der Rede und die Bedeutung der formalen Bildung
Rhetorik: Die Macht der Rede und die Bedeutung der formalen Bildung
 
Schon in die epische Dichtung sind Reden eingefügt; so wird im zweiten Gesang der »Ilias« das Heer der Griechen vor Troja durch eine Folge von Reden des Agamemnon, Odysseus und Nestor zu neuem Kampfeswillen angespornt; im neunten Gesang versuchen Odysseus und Phoinix mit ihren Reden Achill wieder zur Teilnahme am Kampf zu bewegen. Solon bediente sich für seine ermahnenden Reden an die Athener der Form des elegischen Distichons. Rhetorische Argumentationsweisen kann man so schon in den durch Vers gebundenen Reden der Dichtung finden. Als aber vom 5. Jahrhundert an die Prosarede im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Demokratie besonders in Athen ihren Siegeszug antrat, musste sie, um sich über die alltägliche Rede zu erheben, anstelle der Formgebung durch die Verse eine solche durch den Aufbau der Sätze, durch inhaltliche und klangliche Bezüge der Satzteile zueinander und durch eine logisch oder psychologisch zwingende Argumentation finden. Diese Kunstgriffe finden sich zwar auch in der Dichtung, doch für die nun entstehende Kunstprosa sind sie Voraussetzung ihrer Existenz.
 
Neben anderen sind hier Gorgias und Isokrates zu nennen, die auf ihre Weise bahnbrechend wirkten. Da man so in der Prosarede ein sehr wirksames Mittel gefunden hatte, Menschenseelen, besonders auch in der politischen Öffentlichkeit, zu lenken, erhob sich gleich zum Beispiel in Platons Dialog »Gorgias« die Frage - und sie war besonders infolge des freien Umgangs der Sophisten mit überkommenen Werten aktuell -, wieweit der Redner nicht nur mithilfe der Wahrscheinlichkeit in der Kunst der Überredung erfolgreich sein soll, sondern sich um die Erkenntnis der Gerechtigkeit bemühen muss. Diese Frage fand in der Antike immer widersprüchliche Antworten. Aristoteles ordnete in seiner »Rhetorik« die Redekunst zwar der Ethik unter, ließ seine Darlegungen aber auch vom Überredungserfolg bestimmt sein. Man unterschied drei Arten von Reden: Die preisende Rede, die eigentlich politische Rede vor dem Volk und die Rede vor Gericht. Die Rede vor dem Volk stand im 4. Jahrhundert in Athen in großer Blüte, davon zeugen unter anderem die Reden des Demosthenesgegen den Makedonenkönig Philipp II. In dieser Zeit hatte das Wort »Rhetor« in Athen die Bedeutung »Politiker«. Als jedoch in der Zeit des Hellenismus die griechische Welt von Alexanders des Großen Nachfolgern monarchisch (und nicht mehr demokratisch) gelenkt wurde, gab es nur noch hier und da auf städtischer Ebene Möglichkeiten, in einer Rede vor dem Volk politische Entscheidungen herbeizuführen; es blieb die preisende Rede zum Lob von Städten und vor allem von Fürsten und natürlich die Gerichtsrede. Trotz dieser Einschränkung des Wirkungsbereiches der Rhetorik stellte sie bis zum Ende der Antike das Hauptelement der höheren Bildung dar, auch andere Prosaliteratur wie zum Beispiel die Geschichtsschreibung blieb von der Rhetorik mitbestimmt. Auch wer unter Monarchen Einfluss und Geltung haben wollte, musste sich in wohlgeformter Rede ausdrücken können. Deshalb setzte die Rhetorik weiterhin Bildungsnormen; es gab in der Kaiserzeit Lehrstühle für Rhetorik, und Rhetorikhandbücher zeugen vom damaligen Bildungsbetrieb.
 
Prof. Dr. Hans Armin Gärtner/Dr. Helga Gärtner

Universal-Lexikon. 2012.

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